Dortmunder Geldspenden für die osmanischen Waffenbrüder
Ende Januar 1915 wurde unter Leitung von Oberbürgermeister Ernst Eichhoff der Dortmunder Ortsausschuss des “Roten Halbmondes” gegründet. Das Ziel: Die Akquise von “Geldspenden für die osmanischen Waffenbrüder“, “um die Strapazen zu lindern, die die übermenschlichen Härten eines Winterfeldzuges im Kaukasus und die unsagbaren Entbehrungen aller Art in weitem Wüstengelände mit sich bringen“. Der “Rote Halbmond” war bzw. ist das islamische Pendant zum 1863 durch die Genfer Konvention gegründeten Roten Kreuz.
Nach wenigen Tagen kamen in den Sammelstellen in der Stadthauptkasse (Berwordtstraße), in der Städtischen Sparkasse und im Dortmunder Bankverein (beide am Markt) 1.036 Mark zusammen, doch weitere Hilfe sei notwendig, “jeder Deutsche bekenne seine Opferbereitschaft gegenüber der tapferen türkischen Streitmacht”. Bis Oktober 1918 sammelte man in Dortmund für den “Roten Halbmond”, Chöre gaben Benefiz-Konzerte und auch der Magistrat der Stadt Dortmund bewilligte zweimal je 3.000 Mark aus dem Stadtsäckel.
Direkt bei Kriegsbeginn unterzeichneten das Deutsche und das Osmanische Reich einen Bündnisvertrag und Kaiser Wilhelm II. erfand sich als “Freund des Islam” bzw. als “Beschützer der Muslime”. Die globalstrategischen Interessen waren klar:
- Sicherung der Landrouten nach Zentralasien, zum indischen Subkontinent wie auch in Richtung Afrika (Suezkanal),
- Bindung von französischen, britischen und russischen Truppen in Afrika und Asien und
- die Ausrufung des Dschihad mit dem Ziel, die muslimischen Soldaten in den Reihen der Kriegsgegner zum Überlaufen zu bewegen.
Die “Ausrufung des Heiligen Krieges” war Schlagzeile in allen Dortmunder Tageszeitungen. Die damit verbundenen Phantasien reichten von Aufständen der Muslime in französischen und britischen Kolonien bis hin zum Kriegseintritt Afghanistans auf Seiten des Deutschen Reiches. Die Folgen u.a.: Russische Truppen marschierten in die Provinz Erzurum ein und besetzten sie, britische und französische Militäraktionen am Persischen Golf usw.
Aus den Dortmunder Tageszeitungen erfuhr man beinahe täglich die – zensierten – Neuigkeiten von den Kriegsschauplätzen im Osmanischen Reich und damit vom Balkan bis Dschibuti, von Ägypten bis an die Grenze Afghanistans. Regelmäßig kam die intellektuelle “Elite” des Deutschen Reichs nach Dortmund, um im Rathaus in der Veranstaltungsreihe “Vaterländische Reden” einen Vortrag zu halten. Darunter befand sich im Januar 1915 auch der Orient-Experte Dr. Paul Rohrbach, der von der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung als der Hauptwortführer des deutschen Imperialismus angekündigt wurde. In seinem Vortrag “Der deutsche Weltgedanke vor und nach dem Kriege” stellte er die Kriegsziele dar:
- Ein tropisches Kolonialreich werde nach dem Sieg vielen Deutschen ein geeignetes Tätigkeitsfeld ermöglichen. Der deutsche Baugrund werde erweitert.
- Man müsse “den Orientalen usw. durch Tatsachen zeigen, daß wir ihnen besseres zu bieten haben, als die Engländer”.
- Rußland biete Siedlungsland in ausreichendem Maße.
- Mit England werde man “dadurch zur Abrechnung kommen, daß ihm Ägypten genommen und es in Afrika zurückgedrängt” werde.
Reicher Beifall wurde Rohrbach in Dortmund zuteil und 150 Mark für den kolonialen Hilfsausschuss gesammelt – viele mussten umkehren, weil der Rathaussaal zu klein war.
Im Verlauf des Jahres 1915 wurden in Deutschland bereits Informationen über den von den türkischen Behörden organisierten Genozid an den Armeniern bekannt, dem schließlich 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen. Das blutigste Kapitel des Ersten Weltkriegs wurde nicht an der Somme, an der Marne oder in Verdun geschrieben sondern in der Türkei, unter Mitwissen und Mitwirkung des deutschen Reichs. Am 11.01.1916 stellte der aus der SPD-Fraktion ausgeschlossene Karl Liebknecht dazu die Anfrage im Reichtag, welche Schritte der Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen habe, um die “Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?” Und der in einer Nachfrage auf Pfarrer Johannes Lepsius verwies, der von einer “Ausrottung der türkischen Armenier” sprach.
“Die Liebknechtsche Lehre mag gut sein für eine kosmopolitische Sekte mit anarchosozialistischer Kampfmethode. Für eine Partei, die reale Politik treiben und das Vertrauen der Volksmassen nicht verlieren will, ist sie gänzlich unannehmbar” (Arbeiter-Zeitung Dortmund). Die Mehrheitssozialdemokratie schwieg nicht nur zur Ausrottung, sondern sie übernahm in ihren Medien, wie etwa der Arbeiter-Zeitung Dortmund am 28.10.1915, folgende Meldung der türkischen Behörden: “In der Nacht vom 16. September haben armenische Banden einen Aufruhr veranstaltet. Sie haben sich in starken Gebäuden auf dem beherrschenden Punkte der Stadt Urfa verschanzt und eröffneten das Feuer gegen unsere Gendarmerie. Nachdem sie diese verdrängt hatten, bemächtigten sich die Armenier der fremden Niederlassungen und schließlich auch des Stadtteiles der Muselmanen. Die Bande verfolgte mit ihrem Aufruhr den Zweck, die fremden Niederlassungen zu zerstören, Untertanen der mit der Türkei im Kriege befindlichen Staaten zu töten und einen Teil der Kaiserlichen Truppen an ihre befestigten Stützpunkte zu fesseln, um sie so vom Schauplatze abzuziehen.” Opfer werden zu Tätern gemacht, der Widerstand von Urfa gegen die Massaker und Deportationen der Armenier als Angriff auch gegen deutsche Truppen umdefiniert.
Anderslautende Informationen wurden in Dortmund wie wohl auch anderen Ortes systematisch unterdrückt: Die Polizeiverwaltung Dortmund beschlagnahmte im Februar 1916 das “Weltpolitische Wanderbuch” von Paul Rohrbach (s.o.), weil es “unerwünschte Ausführungen über angebliche Armeniergreuel” enthalte. Auch Rudolf Zabels Buch “Im Kampf um Konstantinopel” wurde im April 1916 in Dortmund beschlagnahmt. Der Journalist Rudolf Zabel von der Tägl. Rundschau war ein Augenzeuge und gab eine sehr genaue Beschreibung der Züge, Konzentrationslager und dem Sterben von Westanatolien bis ins Euphrattal. Die Dortmunder Buchhandlungen mussten bei Strafandrohung schriftlich bestätigen, beide Bücher nicht weiter zu vertreiben.
Zwölf evangelische Gemeinden in Dortmund spendeten zwischen 1897 und 1914 Geld für die “armenischen Witwen und Waisen”, den Opfern der älteren hamidischen Massaker im Osmanischen Reich; mit Kriegsbeginn endete diese Unterstützung und wurde in den 1920er Jahren wieder neu aufgenommen im Wissen um den versuchten Genozid. Während des Krieges jedoch wurde im evangelischen Kirchlichen Anzeiger das Thema “Armenien” unterdrückt und stattdessen hörte man in Dortmunder Gemeinden Vorträge über die Kultur des Islam und über das Leben der türkischen Frauen, gehalten z.B. von einem türkischen Mitarbeiter der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen oder von Dr. Gottfried Traub, einem der bekanntesten liberalen Theologen und vormaligem evangelischen Pfarrer in St. Reinoldi. Bei den SPD-Ortvereinen war es nicht unähnlich: Ab Kriegsbeginn 1914 wurden Partei-interne Fortbildungen in Sachen Internationalismus und Imperialismus abgesetzt und neu ein Bildervortrag aufgenommen: “Die Kultur des Islam”. Die Propaganda des Deutschen Reichs zugunsten des Bündnispartners Türkei schlägt durch bis in den letzten Winkel Dortmunds.
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Verwendete Quellen:
Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014
Stadtarchiv Dortmund, Bestand 5/519 und 5/520 (Polizeiverwaltung, Verbotene Schriften)
Arbeiter-Zeitung Dortmund, Jg. 1914-16
Kirchlicher Anzeiger für die evangelische Synode Dortmund, 1914-1918
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