Aus Sennelager in den “Heiligen Krieg”

"Kriegsgefangene im Sennelager 1914/15. Turkos, Zuaven." Ansichtskarte, gelaufen aus dem Sennelager als Feldpost im März 1915. Eine bildidentische, ungelaufene Ansichtskarte mit dem Titel "Kriegsgefangene 1914/15. Turkos, Zuaven" enthält auf der Rückseite die Angabe "H. Schanz, Soest". Sammlung Detlev Brum.  "Turkos" war eine gebräuchliche Sammelbezeichnung für nord- und westafrikanische, muslimische Soldaten. Ernst Mehlich, Redakteur der sozialdemokratischen Dortmunder Arbeiter-Zeitung, berichtet über die afrikanischen Kriegsgefangenen in der Senne: „Im Lager der Belgier sind auch die afrikanischen Truppen untergebracht. Diese verlassen ihre Zelte oder Baracken nur wenn die Sonne scheint. Die braunen Söhne Marokkos sind unser rauhes Klima nicht gewöhnt. Sie vergraben sich daher im Stroh und hüllen sich in ihre warmen Schlafdecken ein."

"Kriegsgefangene im Sennelager 1914/15. Turkos, Zuaven."

In Sennelager (bei Paderborn/Bielefeld) wurde unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs eines der fünf großen Kriegsgefangenen-Stammlager in Westfalen – neben Münster, Dülmen, Minden und Meschede – eingerichtet; zeitweise waren dort über 75.000 Gefangene interniert. In Sennelager waren – wie in vielen anderen deutschen Kriegsgefangenenlagern – auch afrikanische Soldaten interniert, die an der Westfront gefangen genommen wurden. Westfälische Regimenter der 7. Armee waren in Frankreich an Kampfauseinandersetzungen mit französischen und britischen Kolonialsoldaten beteiligt.

Am 22. August 1914 kam einer der ersten Kriegsgefangenen-Transporte im Dortmunder Hauptbahnhof an, die bei Tirlemont (Tienen, Provinz Flämisch-Brabant in Belgien) gefangen genommen worden seien und „in die Senne“ kämen. Dortmund blieb im gesamten Kriegsverlauf ein zentraler Bahnhof für die Kriegsgefangenen-Transporte von der Westfront in die westfälischen Kriegsgefangenenlager. Ab Februar 1915 kamen Kriegsgefangene aus dem Sennelager auch zum Arbeitseinsatz nach Dortmund.

Von den ersten Tagen an befanden sich unter den Kriegsgefangenen in Sennelager auch west- und nordafrikanische Soldaten. Im Sennelager – wie später im Halbmondlager in Zossen – sollen die muslimischen Gefangenen konfessionell geschlossen und isoliert von Kriegsinternierten anderer Herkunft bzw. Religion untergebracht worden sein. Wie lange das Sennelager als Kriegsgefangenenlager existierte ist nicht exakt bekannt. Nach einem Bericht des Militäroberarztes Antonio Ferratges, der das Lager am 29.12.1917 als Vertreter der Königlich Spanischen Botschaft besuchte, befanden sich damals noch 1.093 Franzosen, 261 Belgier, 255 Russen und 5 Portugiesen in Sennelager, wobei jedoch eine weitaus größere Anzahl der Gefangenen in den regionalen Arbeitslagern untergebracht war. Im Verzeichnis der deutschen Kriegsgefangenenlager wird das Sennelager zum 10. Oktober 1918 nicht mehr als Gefangenlager geführt.

Einige der arabischen Kriegsgefangenen aus dem Sennelager nahmen am 14. November 1914 an der Ausrufung des Heiligen Krieges (jihad) gegen die Entente durch den Kalifen Mehmed V. Reshad in Konstantinopel teil. Ende Oktober 1914 wurden im Senne-Lager 14 Gefangene – fünf Marokkaner, sieben Tunesier und zwei Algerier – vom deutschen Außenministerium ausgewählt. Zusammen mit dem Vertreter des Aussenministeriums und dem Dolmetscher, einem Lektor für Marokkanisch-Arabisch am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin, wurden sie, als Zirkusartisten getarnt, auf dem Schienenweg an den Bosporus gebracht. In Istanbul wirkten sie als Komparsen bei der Ausrufung des “Heiligen Krieges” mit, was der Vertreter des Aussenministeriums  so beschrieb: “Wir standen auf dem Balkon der Botschaft. Ich stellte die Nordafrikaner vor mir auf und soufflierte ihnen ′Hoch lebe der Sultan, der Kalif′ und dergleichen und ließ sie reden.”

Die Arbeiter-Zeitung, Sozialdemokratisches Organ für das östliche industrielle Ruhrgebiet, berichtete am 16.11.1914 über die Abschlußkundgebung vor der deutschen Botschaft: “Der Sieg werde hoffentlich für die Türkei und den Islam eine neue Aera des Glückes herbeiführen. Der Botschafter schloß mit einem Hoch auf den Islam, sowie auf Herr und Flotte der Osmanen. Rasim Bei stellte daraufhin die freigelassenen Algerier vor, von denen einer in einer arabischen Ansprache ausdrückte, es sei die Hoffnung aller Mohammedaner, mit Hilfe der Verbündeten das Joch Frankreichs, Englands und Rußlands zu zersprengen.”

Im späteren Verlauf des Krieges wurden die muslimischen Kriegsgefangenen in Wünsdorf-Zossen bei Berlin untergebracht und politisch indoktiniert. Damit wurde das Ziel verfolgt, die muslimischen Gefangenen zum jihad und somit zum Übertritt in die Reihen des deutsch-türkischen Bündnisses gegen Frankreich, Großbritannien und Rußland zu bewegen.

Bericht aus dem Sennelager

“Das bunte Bild, das gegenwärtig das Kriegsgefangenenlager in der Senne bietet, bildet Sonn- und Wochentags das Ziel vieler Tausende von Neugierigen.”

Ernst Mehlich vom Dortmunder SPD-Parteivorstand und Redakteur der Arbeiter-Zeitung (nach dem Krieg Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates, Stadtverordnetenvorsteher, SPD-Landtagsabgeordneter und Schirmherr der ersten Kolonialausstellung in Dortmund) besuchte das Sennelager im Oktober 1914. In der Senne, so sein Bericht in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung, seien die etwa 20.000 Kriegsgefangenen in Zelten und Baracken untergebracht und die Lager seien eingezäunt und stark bewacht.

Die afrikanischen Truppen, so Mehlich, verließen ihre Zelte oder Baracken nur wenn die Sonne scheint. “Die braunen Söhne Marokkos sind unser rauhes Klima nicht gewöhnt. Sie vergraben sich daher im Stroh und hüllen sich in ihre warmen Schlafdecken ein. Meist sind es Senegalneger, eine Mischung von Berbern und Arabern. Doch bemerkte ich auch einen Vollblutneger.” Auf die ethnografischen Beobachtungen Mehlichs wollen wir hier nicht näher eingehen. Interessant ist vielmehr, wie sich innerhalb weniger Monate der Sprachgebrauch eines führenden Sozialdemokraten änderte. Gerade noch sprach man in der Arbeiter-Zeitung vom “schwarzen Proletarier” und lehnte den Begriff “Neger” als kolonialistische Bezeichnung weitgehend konsequent ab, doch kurz nach Kriegsbeginn schwenkt der Sozialdemokrat in die Sprachmuster der früheren politischen Gegner ein.

Im Gegensatz zu den eigentlichen Franzosen” sehe man die Afrikaner im Sennelager untätig. “Ihre Unterhaltung geschieht in einem unverständlichen Idiom. Die Speisen bereiten sie sich selbst in der ihnen zusagenden Weise zu – ein Beweis, welche Rücksicht auf ihr Wohlbefinden genommen wird.” Auch für die Befriedigung religiöser Bedürfnisse werde Sorge getragen. “Sehr religiös veranlagt sind die muselmännischen Marokkaner. Sobald die Sonne untergeht, kommen sie aus ihrem Zelt heraus, knien auf die Erde und berühren mit dem Kopfe mehrmals den Boden.“ Der explizite Hinweis, dass bei den afrikanischen Kriegsgefangenen “Rücksicht auf ihr Wohlbefinden” genommen werde, geschieht sicherlich als Reaktion auf die Vorwürfe der Kriegsgegner, Deutschland Kriegsführung in Belgien sei “barbarisch”. Wenn dann nicht nur Franzosen, sondern “sogar” Afrikaner gut behandelt werden, dann darf man das getrost in die Rubrik Propaganda für die Heimatfront einordnen: Deutschland, das Kulturvolk, behandelt seine Kriegsgefangenen gut. Speziell 1914 sind die Verhältnisse in allen großen Kriegsgefangenenlagern katastrophal.

“Die gefangenen Soldaten müssen täglich fünf Stunden Arbeit leisten”, so der Dortmunder SPD-Politiker, “viele würden im Lager mit Barackenbau beschäftigt, denn im Winter würde es in den provisorischen Zelten zu kalt werden”. Auch zu auswärtigen Arbeiten in der Landwirtschaft usw. würden die Gefangenen verwandt, was er als Sozialdemokrat nicht gutheißen könne:

“Solange es noch Arbeitslose gibt, können wir diese Verwendung nicht billigen.”

Im Juli 1915 berichtet die Dortmunder Arbeiter-Zeitung erneut über die Kriegsgefangenen im Sennelager, das zwischenzeitlich „mit elektrisch geladenem Drahtzaun eingefriedet“ sei. Die Gefangenen seien in landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben beschäftigt und meldeten sich freiwillig („nach der Haager Konvention können sie nicht zum Arbeiten gezwungen werden“).

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Verwendete Quellen:

Gerhard Höpp: Muslime in der Mark: Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914 – 1924 (Studien / Zentrum Moderner Orient Berlin, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. ; 6), 1997

Arbeiter-Zeitung Dortmund, 1914/1915

“Die Kriegsgefangenen in Deutschland”, Siegen-Leipzig-Berlin 1915

Wilhelm Doegen: Kriegsgefangene Völker, Band 1: Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal in Deutschland. Berlin 1921

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