Im Ruhrgebiet und in Westfalen gab es die deutschlandweit höchste Dichte an Völkerschauen und anderen Formen exotisierter Unterhaltung. Eine Auflistung von Gastspielen nach Gebietskörperschaften im Zeitraum 1809 bis 1943 und Handreichung für Heimatforscher*innen zur „glokalen“ Geschichtsschreibung.
Im Ruhrgebiet und in Westfalen gastierten zwischen den 1870er Jahren und dem Ersten Weltkrieg eine Reihe sogenannter Völkerschauen zur Unterhaltung von „Ruhris“ und „Westfäl*innen“. „Völkerschau“ ist ein unscharfer Oberbegriff für unterschiedliche Typen von inszenierten Zurschaustellungen von Angehörigen exotisch anmutender Völker aus Afrika, Asien, Amerika oder aber auch „aus den Rändern“ Europas (z.B. Sami, Inuit, Völker aus Sibirien), kurzum: aus dem „Globalen Süden“. Je nach Konzept wurden z.B. Musikstücke, Tänze und Kriegsspiele vorgeführt oder der Auf- und Abbau von Häusern, domestizierte Tiere und Gegenstände des alltäglichen Lebens präsentiert. Die Schausteller*innen besserten ihr Einkommen mitunter auf durch den Verkauf (kunst-) handwerklicher Arbeiten, einheimischer Münzen oder indem sie sich – gegen Honorar – fotografieren und/oder Haut und Haar anfassen ließen.
Vorläufer der späteren „Völkerschauen“ gab es bereits zur Unterhaltung des Adels. Für die breite Masse der Bevölkerung in Westfalen tauchen erste Völkerschau-ähnliche Zurschaustellungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, manchmal verbunden mit wandernden Menagerien mit Tieren aus Afrika und Asien. Die letzten „klassischen“ Völkerschauen wurden in Westfalen noch 1939 gezeigt.
Es ist schwierig und bisweilen unmöglich, Völkerschauen von anderen Formen exotisierter Unterhaltung trennscharf zu unterscheiden. An Völkerschauen nahmen mitunter ausgewiesene Expert*innen verschiedener Genres teil, z.B. Kunsthandwerker*innen, Dompteur*innen, Akrobat*innen, Artist*innen, Schauspieler*innen, Tänzer*innen, Musiker*innen, Scharfschütz*innen (z.B. bei Buffalo Bills Wild West). Phasenweise traten etwa Schaustellende von „Hagenbecks Indien“, einer der großen Völkerschauen mit über 100 Teilnehmenden), auch in Varietés auf (Artisten, Musik-Orchester) oder wechselten später in große Zirkusunternehmen. Umgekehrt nahmen große und kleine Zirkusse in den 1920er und 1930er Jahren wieder Elemente „typischer“ Völkerschauen auf. Manche Sänger*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen wechselten das „Fach“ in Richtung Cake-walk, Ragtime und frühen Jazz. In „Kraft durch Freude“-Programmen in der Heimat wie in den besetzten Gebieten lassen sich noch in den 1940er Jahren Akrobat*innen vor allem aus Nordafrika finden, die viele Jahre zuvor bereits in Zirkussen oder in Völkerschauen tätig waren.
Die Liste Völkerschauen, exotisierte Unterhaltung und schaustellende People of Color im Ruhrgebiet und in Westfalen umfasst über 700 Gastspiele von ca. 225 Gruppen, die im Ruhrgebiet und in Westfalen zwischen 1809 und 1943 auftraten, teils nur wenige Tage, teils mehrere Wochen. Die Auflistung ist vor allem als Hilfsmittel für Heimatforscher*innen und andere Interessierte angelegt und ermöglicht vor allem einen regionalen Zugang zum Thema Völkerschauen und exotisierte Unterhaltung. Die Liste soll fortgeschrieben werden und Ergänzungen werden gerne entgegengenommen.
Bekannt sind die „großen“ Hagenbeckschen Völkerschauen. Die Teilnehmenden wurden in den Heimatländern für eine Europatournee angeworben und blieben manchmal nur eine Sommersaison in Europa. Bei der Mehrzahl der Völkerschauen handelte es sich hingegen um kleinere und mitunter zusammengewürfelte Gruppen von Menschen, die bereits seit Jahren in Europa und auch im Ruhrgebiet und in Westfalen lebten. Dazu drei Beispiele von genre-wechselnden schaustellenden People of Color.
Beispiel: Collin Walker
Der 26-jährige Collin Walker aus Freetown in Liberia (Westafrika) kam zusammen mit einer siebenköpfigen Völkerschautruppe im Januar 1894 mittelos in der Dortmunder Nordstadt an. Walker lebte bereits seit sieben Jahren in Deutschland, sprach „ein leidlich flottes Deutsch“ und war „mit den heimischen Verhältnissen durchaus vertraut“. Die Gruppe wurde zunächst von der Dortmunder „Armenverwaltung“ betreut und mindestens zwei Mitglieder erhielten eine Anstellung bei der Dortmunder Stadtreinigung, sehr zur Freude der Dortmunder Kinder, die in großer Zahl den Schwarzen Straßenkehrern bei der Arbeit folgten. Bei minus 12 Grad Kälte war das Schneeschaufeln Schwerstarbeit: „Ist auf Straß bei Eis viel zu kalt, gehen dabei tot“, so werden sie in der Tageszeitung zitiert. Am 13.08.1894 nahm Walker zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern der Schaustellertruppe die Arbeit als „Zuschläger“ im Dortmunder Eisenwerk „Union“ auf. Während seiner Beschäftigung im Stahlwerk logierte er als „Kostgänger bei einer hiesigen Witwe, wo ihm nach seiner Angabe von einem anderen, aber weißen Kostgänger ein wertvoller Siegelring gestohlen wurde“. Seine Klage wurde am 29.01.1895 vom Dortmunder Amtsgericht abgewiesen. Seit November 1894 arbeitete Walker als Kellner in Dortmund-Hörde (gemeinsam mit der „schwersten N*in der Welt, Prinzessin Marschall“), trat anschließend in Altena auf mit Tanz und Gesang (Werbung: „ein N*, trat zuletzt in London auf“), im Athletenklub Altena führte er „heimathliche Tänze vor, die ihren Eindruck und namentlich das blitzartige Schwingen eines Säbels um den Kopf, nicht verfehlten“. In Iserlohn präsentierte Walker zunächst eine „Ausstellung von afrikanischen Waffen und Seltenheiten“, arbeitete für einige Wochen als Kellner und feierte dort seinen Geburtstag, der in der Tageszeitung angekündigt wurde: „Dem Afrika-N* Herrn Willy Collin Walker, genannt Lustig Willy bei [Gaststätte] J. Schauerte, Iserlohn, zu seinem morgigen Wiegenfeste ein durch ganz Iserlohn schallendes donnerndes Hipp, Hipp, Hurrah!“
Collin Walker arbeitete u.a. noch in Witten, 1897 verliert sich seine Spur.
Beispiel: Miss Saida
Eine andere Dortmunderin (wohnhaft in Dortmund-Hörde) war „Miss Saida“, die zwischen 1895 und 1911 entweder als Kellnerin mit rassifizierenden Verweisen auf „schöne Mulattin“ und „Tochter eines Sudan-N*s und einer Deutschen“ angekündigt wurde (53 Engagements in Nordrhein-Westfalen, manchmal inklusive Gesang und Tanz) oder ab 1897 als Artistin bzw. als „schneidige Schlangenkönigin mit ihren Riesenschlangen“ in Zirkussen und Varietés auftrat (22 Gastspiele in NRW). Nachweisbar sind Gastspiele als Kellnerin oder Artistin in Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart, Leipzig, Berlin usw., sie trat faktisch deutschlandweit auf. Sie war vermutlich die erste deutsche, weibliche People of Color, die sich als Direktorin einer Schaustellertruppe selbstständig gemacht hat (neben den teils bekannten PoC-Unternehmern Nayo Bruce, Charles Taylor, Emmanuel Sam und Charles Burkett). 1912 verliert sich ihre Spur.
Beispiel: Charles Burkett
Die Überlebensstrategien von Migrant*innen aus dem Globalen Süden zeigt auch das Beispiel von Charles Burkett und seinen Nachkommen. Im Jahre 1901 heirateten in Düsseldorf der „Kellner Lawrence, gen. Charles Burkett und Maria Spatz“, sechs Monate später kam Tochter Antonie Margarethe in Mülheim an der Ruhr zur Welt, weitere Kinder folgten. Auf dem Schützenfest in Lüdenscheid trat 1909 Burketts „Original Kolonial-N*truppe“ auf, an der Aachener Kirmes 1912 nahmen sie als „Burketts Völkerrassen, Völker sowie Karawane aus dem tiefsten Süden und Amerika“ teil und auf der Dortmunder Herbstkirmes 1912 schließlich als „Charles Burkett N*-Truppe“ (mit der Kontaktadresse auf dem Briefbogen: „Uhlandstraße 10, Dortmund“). „Eine armselige Bretterbude“, notierte der diensthabende Wachmann in seinem Bericht abschätzig und empfiehlt, derlei Schaustellungen zukünftig nicht mehr auf der großen Dortmunder Herbstkirmes zuzulassen. Zu sehen waren vier Männer, eine Frau und zwei Kinder, bekleidet mit jenen klischeehaften Erkennungszeichen, die man in Westfalen häufiger zu sehen bekamen, wenn „Afrikaner“ präsentiert wurden. An der Ausstaffierung der Truppe war nichts „authentisch“, vielmehr so, wie es das zahlende Publikum erwartete und wie man sich schon längst in einschlägigen Spezialgeschäften karnevalistisch einkleiden konnte.
„Wegen Versäumnis der Meldepflicht als feindlicher Ausländer“ wurde Charles Burkett im Kriegsjahr 1915 von der Strafkammer in Duisburg verurteilt. Im Berufungsverfahren vor dem Reichsgericht gab er an, „kein Engländer zu sein, da er auf hoher See auf einem Schiffe, dessen Nationalität ihm nicht bekannt, geboren sei. Bis zum 13. Lebensjahre, dem Todesjahre seiner Eltern, habe er in Amerika gewohnt und sei dann nach Deutschland gekommen. Das Gericht hielt seine Angaben nicht für widerlegt. Es sah ihn für einen Amerikaner an und sprach ihn frei“.
Nach dem 1. Weltkrieg avancierten Charles Burkett und seine Söhne Arthur und Waldi zu bekannten Zirkusdarstellern und traten als Trapezkünstler, Cowboys oder in der „courthsmahlerischen Tracht Indiens“ auf, so etwa 1925 im Zirkus Hagenbeck auf dem Dortmunder Viehmarkt oder 1929 in Witten-Annen 1929 als Elefantendompteur.
Im Rahmen der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ traten die männlichen Nachkommen von Charles Burkett ab 1938 mehrfach in Bochum (ein Familienmitglied lebte dort in der Pilgrimstraße 38) als Akrobaten auf, zuletzt noch im März 1944 in Arnsberg. Trotz der großen Gefahren aufgrund der NS-Rassegesetze überlebten Mitglieder der Familien Burkett und traten 1950 im Zirkus Althoff weiterhin als Akrobaten auf.