Der unmittelbare Beginn des deutschen Kolonialismus (1884) fällt in die Zeit des Sozialistengesetzes, das zwischen 1878 und 1890 sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich verbot und praktisch dazu führt, dass aus Dortmund zunächst keine direkten „antikolonialen“ Informationen vorliegen. Klar ist: Die im Ausland produzierte und heimlich eingeschmuggelte sozialdemokratische Presse verurteilt den Beginn des deutschen Kolonialismus. In „Freiheit – internationales Organ der Sozialrevolutionäre deutscher Sprache“ wird in einer Ausgabe z. B. berichtet über Streiks in Dortmund (Zeche Germania), über die deutschen Flaggenhissung auf den Karolineninseln in der Südsee und über die Versendung belgischer Strafgefangener nach dem Kongo, übrigens mit der markanten Aufforderung:

„Sendet Eure Peiniger – nicht nach dem Congo, sondern auf den Richtplatz!“

Am 1. Mai – seit 1890 auch in Dortmund gefeiert – sollen sich die klassenbewussten Arbeiter „beseelen lassen vom Gedanken der Solidarität, dem Gefühl, daß die Arbeiter der gesammten Welt die gleichen Interessen haben. Hoch die internationale völkerbefreiende Sozialdemokratie in Süd und Nord, Ost und West“ (Dortmund, Mai-Aufruf 1893) – und meinten mit „Süd“ gerade einmal Österreich, vielleicht auch Italien, aber noch nicht den Süden der Welt. Dennoch, so langsam kam der „Süden“, kamen „die Kolonien“ in das Blickfeld klassenbewußter Proletarier.

Die sozialdemokratische Dortmunder „Westfälische Freie Presse. Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes“ kommentiert 1891 ironisch mit Blick auf die (Zwangs-)Arbeitsverweigerungsstrategien der einheimischen Bevölkerung in der Kolonie Deutsch-Ostafrika:

„Der „Wilde“ in Afrika ist noch zu sehr Mensch, als daß er sich so ohne weiteres den kapitalistischen Ausbeutungstendenzen unterwerfen könnte. Er ist noch nicht „zivilisiert“ genug, um die beglückende Herrschaft des Kapitalismus zu würdigen.“

“Wilde” und “zivilisiert” sind auch im Original bereits in Anführungszeichen geschrieben – ein Symbol des Wissens um die Brüchigkeit der Begriffe -, die das Zitat in ganz besonderer Weise bemerkenswert macht. Der angebliche “Wilde” verhält sich ausgesprochen richtig (“zivilisiert”), weil er sich der Zwangsarbeit entzieht und sich also nicht vom Kapitalismus “beglücken” lässt. Der Mensch entzieht sich der Ausbeutung und das stößt auf vollstes Verständnis.

Kamerun in Westdeutschland“,

hieß es, wenn auf einer Agitationstour Dortmunder Sozialdemokraten verprügelt und mit Rufen „Steinigt sie“ verfolgt wurden. Die Kolonialskandale wurden seit Beginn der 1890er Jahre in der sozialdemokratischen Presse veröffentlicht und die Entrüstung war groß. „Kamerun“ wurde zu einem Synonym für Willkür und Unterdrückung in Afrika … und in Dortmund. Bergarbeiter-Siedlungen (genannt Kolonien), wie die in Dortmund-Sölde (Zeche Margarethe), erhielten Anfang der 1890er Jahre im Volksmund den Namen „Kamerun“ (anderenorts und teilweise zeitversetzt auch den Namen „Negerdorf“).
Der Entstehungszusammenhang von Selbstbezeichnungen wie „Kamerun“ oder “Negerdorf” hat nur vordergründig mit den immer wieder gern zitierten fehlenden Waschgelegenheiten zu tun, wonach die Bergarbeiter nach der Arbeit ungewaschen, also umgangssprachlich ”schwarz wie die N….”, nach Hause und damit zurück “in die Kolonie” gehen mussten. Vielmehr stand hinter der ursprünglichen Verwendung solcher Begriffe der Versuch einer Begriffsumdeutung, um die ungerechten Verhältnisse in Dortmund zu brandmarken. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nutzte also die Empörung über die Kolonialgräuel und setzte “das-sind-Verhältnisse-wie-in-Kamerun” als Kampfbegriff ein, um die unzureichenden hygienischen Verhältnisse, die staatliche Repression und die Willkür des Zechenkolonie-Wohnungswesens in Dortmund und im ganzen Ruhrgebiet anzuklagen.
Negerdorf” dürfte im Ruhrgebiet auch nichts mit einem bestimmten Baustil oder gar der Zuwanderung katholischer Arbeiter (die “Schwarzen”) zu tun, wie manchmal kolportiert wird. Verfolgt man die zeitgenössische sozialdemokratische Presse, dann werden Begriffe wie “Sklave” und ”Neger” ab den 1890er Jahren fortlaufend benutzt, um die ungerechte Behandlung von Bergarbeitern in Dortmund zu kennzeichnen. Nahm also der Steiger als willkürlich empfundene Lohnabzüge vor, gegen die sich der Bergmann nicht wehren konnte, dann ”übersetzte” die Arbeiter-Zeitung das in polemischen Formulierungen wie z. B. ”wie ein Neger behandelt” bzw. “wie ein Sklave behandelt“ zu werden. Der gewünschte propagandistische Effekt konnte nur deshalb erzielt werden, weil bereits ein Wissen über Sklaverei, die Verhältnisse in den europäischen Kolonien und eine damit verbundene ethische Verurteilung in der Arbeiterbewegung vorhanden war.

Die Sozialdemokratie in Dortmund nahm also schon früh Anleihen bei den bekannten Kolonialskandalen und setzte die „Lohnsklaven“ in Dortmund sprachlich mit den „Sklaven des Kolonialismus“ in Afrika in Bezug. Etwa 1893 im Anschluss an eine Dortmunder Massenversammlung mit dem SPD-Parteivorsitzenden August Bebel, in der er eine Kritik am Katholischen Afrika-Verein (katholische Anti-Sklavereibewegung) formulierte:

Die Sklaverei sei „dort wie hier ein Ergebnis der wirtschaftlichen Verhältnisse. … Gründet Antisklavereivereine für Deutschland und helft die Millionen von Lohnsklaven aus den Banden der modernen Sklavenbarone, der Schlot- und Krautjunker befreien. (…) Wenn wir hier einmal die Knechtschaft abgeschafft haben, dann wollen wir auch den Afrikanern zur Freiheit helfen. Wer selbst mit Ketten belastet ist, kann keinem Andern die Ketten abnehmen.“

Ketten, Lohnsklaverei, Sklavenbarone. In der sozialdemokratischen Kette von antagonistischen Proportionen verhielten sich

  • Kapitalisten zu Proletariern wie
  • Kolonialherren zu Kolonisierten,
  • Buren zu Schwarzen,
  • Sklavenhaltern zu Sklaven,
  • Spanier zu Indianern,
  • böse zu gut
    (in Anlehnung an Tzvetan Todorov)

Mitunter reichte ein warnendes Wort, z.B. „Kautschukpolitiker“, um Dortmunder Arbeiter von der Beteiligung an der Ehrengeschenk-Sammlung für den nationalliberalen Politiker Rudolf von Bennigsen abzuhalten. Denn das sollte man nicht vergessen: Nicht erst seit Mario Vargas Llosas „Der Traum des Kelten“ (2011) wird über die „Kongogräuel“, die insbesondere mit dem Kautschukabbau einhergingen, gesprochen, sondern die Dortmunder Arbeiterpresse berichtete darüber bereits in den 1890er Jahren.

Neues vom Hänge-Peters“ wurde eine fortlaufende Rubrik in der sozialdemokratischen Dortmunder Arbeiterzeitung: Darin en detail die Beschreibung der Kolonialverbrechen des Carl Peters. Als 1896 ein Krieg in Deutsch-Südwestafrika auszubrechen droht, wird ironisch gefragt: „Weshalb mögen sich die Eingeborenen nur „empört“ haben?“ Und die Antwort ist klar: Weil man ihnen das Land und ihre Rechte weggenommen hat.

Die Arbeiterzeitung Dortmund definierte dann auch den deutschen Kolonialismus gewissermaßen “zeitlos gültig”:

„wenn ein paar Kaufleute nach Herzenslust unter dem Schutz der deutschen Flagge die eingeborene Bevölkerung übers Ohr hauen können“.

Wer weiß, vielleicht ist das für viele Menschen noch heute die populäre Übersetzung?

Bereits im 19. Jahrhundert ist eine gewisse Empathie mit den Opfern des deutschen Kolonialismus und ein Verständnis für deren passiven oder auch aktiven Widerstand feststellbar. Aber man sollte das nicht überbewerten als eine bereits manifeste ”antikoloniale” Einstellung. Aber so wie sich Kolonialismus und Rassismus zu konstituierenden Merkmalen des imperialistischen Deutschlands entwickeln, so werden auch „die Kolonien“ mit umgekehrten Vorzeichen zu einem Projektionspunkt des proletarischen Bewusstseins: Der brutal ausgebeutete und mißhandelte schwarze Proletarier in Afrika und Amerika wird ein Mahnmal der sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland – von schwarzen Proletarierinnen war übrigens noch nicht die Rede.

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Koloniale Veranstaltungen in Dortmund