SPD Dortmund “gegen die kapitalistische Kolonialpolitik!”
Am 1. Mai – seit 1890 auch in Dortmund gefeiert – sollen sich die klassenbewussten Arbeiter in Dortmund „beseelen lassen vom Gedanken der Solidarität, dem Gefühl, daß die Arbeiter der gesammten Welt die gleichen Interessen haben. Hoch die internationale völkerbefreiende Sozialdemokratie in Süd und Nord, Ost und West“ (Mai-Aufruf 1893) – und meinten mit „Süd“ gerade einmal Österreich, vielleicht auch Italien, aber noch nicht den Süden der Welt. Dennoch, so langsam kam der „Süden“, kamen „die Kolonien“ in das Blickfeld klassenbewußter Proletarier.
„Kamerun in Westdeutschland“,
hieß es, wenn auf einer Agitationstour Dortmunder Sozialdemokraten verprügelt und mit Rufen „Steinigt sie“ verfolgt wurden. Die Kolonialskandale wurden von nun an in der sozialdemokratischen Presse veröffentlicht und die politische Entrüstung war groß. „Kamerun“ wurde auch in Dortmund zu einem Synonym für Willkür, Vertreibung und Unterdrückung. Bergarbeiter-Kolonien, wie die in Dortmund-Sölde (Zeche Margarethe), erhielten Anfang der 1890er Jahre im Volksmund den Namen „Kamerun“ (anderenorts auch den Namen „N….dorf“, wie z.B. in Dortmund-Dorstfeld, Bergkamen, Kamen, Schalke). Als Erklärung wird bis heute kolportiert, dass solche Namen entstanden sind, weil die Bergleute in Ermangelung von Waschmöglichkeiten „schwarz“, also ungewaschen, nach Hause gehen mussten. Der Entstehungszusammenhang von „Kamerun“ ist aber ein anderer: Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nutzte
„Kamerun“ als Begriff für unzureichende hygienische Verhältnisse, staatliche Repression, politische Verfolgung und Willkür des Zechenkolonie-Wohnungswesens in Dortmund und im ganzen Ruhrgebiet.
Die sozialistische Arbeiterbewegung nahm Anleihen bei den bekannten Kolonialskandalen und setzte die „Lohnsklaven“ in Dortmund sprachlich mit den Opfern des Kolonialismus in Afrika in Bezug. So etwa nach einer Veranstaltung mit dem SPD-Parteivorsitzenden August Bebel in Dortmund, in der 1893 der Dortmunder katholische Afrika-Verein kritisiert wird:
Die Sklaverei sei „dort wie hier ein Ergebnis der wirtschaftlichen Verhältnisse. Gründet Antisklavereivereine für Deutschland und helft die Millionen von Lohnsklaven aus den Banden der modernen Sklavenbarone, der Schlot- und Krautjunker befreien. … Wenn wir hier einmal die Knechtschaft abgeschafft haben, dann wollen wir auch den Afrikanern zur Freiheit helfen. Wer selbst mit Ketten belastet ist, kann keinem Andern die Ketten abnehmen.“
Ketten, Lohnsklaverei, Sklavenbarone. In der sozialdemokratischen Kette von antagonistischen Proportionen verhielten sich
- Kapitalisten zu Proletariern wie
- Kolonialherren zu Kolonisierten,
- Buren zu Schwarzen,
- Sklavenhaltern zu Sklaven,
- Spanier zu Indianern,
- „böse zu gut“.
„Neues vom Hänge-Peters“ war eine fortlaufende Rubrik in der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung: Darin en detail die Beschreibung der Kolonialverbrechen von Carl Peters. Als 1896 ein Krieg in Deutsch-Südwestafrika auszubrechen droht, wird ironisch gefragt: „Weshalb mögen sich die Eingeborenen nur „empört“ haben?“ Und die Antwort ist klar: Weil man ihnen das Land und ihre Rechte weggenommen hat. Und in einem Artikel zu Deutsch-Ostafrika hieß es 1891 ironisch:
„Der „Wilde“ in Afrika ist noch zu sehr Mensch, als daß er sich so ohne weiteres den kapitalistischen Ausbeutungstendenzen unterwerfen könnte. Er ist noch nicht „zivilisiert“ genug, um die beglückende Herrschaft des Kapitalismus zu würdigen.“
Erkennbar werden eine gewisse Empathie mit den Opfern des deutschen Kolonialismus und ein Verständnis für deren passiven oder auch aktiven und sogar bewaffneten Widerstand.
Handelskammer Dortmund: Kolonien und Flotte
Die 2. Phase des deutschen Kolonialismus begann mit der „Erwerbung“ von Kiautschou sowie pazifischer Kolonialgebiete: die Karolinen, Palau, Marianeninseln sowie die Samoa-Inseln.
„Der Kampf um die Vertheilung der Erde ist in ein neues Stadium getreten“,
sagte die Handelskammer Dortmund und forderte nun – auch zum Schutz der überseeischen Kolonien – eine starke Flotte. Die Flottenvermehrung wurde das Top-Thema der Dortmunder Stahl- und Maschinenbauindustrie und dem Vorsitzenden der Handelskammer wird bereits am 13. Dezember 1897 eine Vollmacht erteilt, Kundgebungen für die Flottenvorlage im Namen der Handelskammer zuzustimmen, „oder eventuell selbst die Anregung für eine solche zu geben.“ Die Handelskammer Dortmund war die Speer- und auch die – sprichwörtliche – Stahlspitze der Flottenpolitik. Beteiligt waren etliche Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie, aber auch Importeure, die z.B. Asbest aus Südafrika für die Wärmedämmung im Schiffsbau bereit stellten.
Gut zu wissen, womit der 1899 fertig gestellte Kanalhafen begründet wurde: „Eisenerze und Colonialwaren“, so argumentierte die Handelskammer Dortmund bereits 1894. Schon die ersten ausländischen Erzlieferungen über den Dortmund-Ems-Kanal im Jahre 1900 kamen keineswegs nur aus Schweden, sondern z.B. aus Marokko.
Dortmund und der Welthandel – da galt es für die Handelskammer, sich mit Details zu beschäftigen, z.B.:
- Dortmunder Kolonialwarenhändler beschwerten sich über die Höhe der vom deutschen Konsul in „Kleinasien“ erhobenen Abgaben für Ursprungserzeugnisse; die Handelskammer Dortmund wandte sich mit einer Eingabe an den Minister für Handel und Gewerbe.
- Für die Dortmunder Industrie war die Einführung eines Zolles auf Quebracho-Holz „unannehmbar“; die Handelskammer schloss sich Kundgebungen an bzgl. Kündigung des argentinischen Handelsvertrages.
- Die Entsendung einer Kommission nach Ostasien zur Erforschung des dortigen Marktes und der dortigen Absatzverhältnisse wurde abgelehnt, „es sei besser, wenn man in Einzelfällen oder für einzelne Berufe specielle Beauftragte dorthin entsendet.“
- Das Firmenregister von Kiautschou (China) wurde in der Handelskammer ausgelegt und die Mitglieder darüber informiert.
Vertreter der Dortmunder Wirtschaft beteiligten sich an diversen kolonialen Projekten, so z.B. auch an der Deutschen Kolonialschule „Wilhelmshof“ in Witzenhausen, dem Ausgangspunkt der späteren Universität Kassel. Kommerzienrat Brügmann, Ingenieur und Stadtrat in Dortmund, stand nach Kommerzienrat Friedrich Krupp in Essen und Kaiser Wilhelm II bereits an dritter Stelle der Großspender.
Von der Heidenmission zur Kolonialmission
Fortlaufend unzufrieden zeigte sich die Kreissynode Dortmund der Evangelischen Kirche mit den Anstrengungen der Gemeinden zugunsten der Heidenmission. Gerügt wurde, dass das Dortmunder Spendenaufkommen im Verhältnis zur Einwohnerzahl auf dem letzten Platz aller Synoden in der Grafschaft Mark lag. Der General-Superintendent in Münster verlangte sogar Auskunft über die Planungen zwecks Behebung dieses misslichen Umstands.
Den Präses der Kreissynode Dortmund trieben noch andere Sorgen um, denn in Dortmund bekam die „angestammte“ Rheinische Mission Konkurrenz von anderen evangelischen Missionsgesellschaften. Der Präses (Superintendent) 1891: „Daß auch in unserer Synode die Rheinische Mission durch die Ostafrikanische Mission keinerlei Verkürzung erfahre, betrachte ich als selbstverständlich.“ Maßregelungen werden ausgesprochen, die aber nicht fruchteten: Die Ostafrikanische Mission aus Bethel, eine explizite Kolonialmission, fand auch in Dortmunder Gemeinden Anhängerinnen und Anhänger, die sich in Frauenmissionskreisen und Pfennigvereinen organisierten. Weitere Konkurrenz erwuchs durch die Goßner-Mission („für die hungernden Khols in Indien“), den theologisch liberalen Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsverein (China und Japan) oder die Orientmission („für das armenische Waisenkind“). Allein die streng-pietistischen Missionsgesellschaften fanden in Dortmund wenig Anklang.
Über das jährliche Synodal-Missionsfest hinaus – dort predigten in der Regel die Stars der Rheinischen Missionsgesellschaft – wurden nun auch zunehmend Gemeinde-Missionsfeste gefeiert; gegen Ende des Jahrhunderts praktisch in jeder Gemeinde. (Frauen-)Missionsgruppen und Kollektenvereine existierten in allen Dortmunder (Innen-) Stadtgemeinden und neue wurden in Dorstfeld, Mengede, Brackel, Brechten, Bodelschwingh, Eving, Hombruch, Eichlinghofen, Lünen oder Witten-Rüdinghausen gegründet.
Deutsche Kolonialgesellschaft, Abteilung Dortmund
Dr. August Auler, Direktor des Realgymnasiums, übernahm für 17 Jahre den Vorsitz der Abteilung Dortmund der Deutschen Kolonialgesellschaft. Er war zugleich Mitglied im Gesamtvorstand der Kolonialgesellschaft, aber auch Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche und Vorsitzender des Evangelischen Afrika-Vereins in Dortmund. Die erste Veranstaltung unter seiner Leitung fand 1895 zum Thema „Mission und Kolonisation“ statt und es referierte Dr. Schreiber, der Leiter der Rheinischen Mission. Es folgten Veranstaltungen aus dem kolonialen Panorama, so z.B. über „Hygiene in den Tropen“, über „deutsche Siedlungen in Brasilien“, über die „Deutsche Flotte und ihre Wichtigkeit für die Kolonien“ oder über die neuen Kolonien „Kiautschou“ und die “Karolinen“.
Über politische Initiativen ist nur wenig bekannt. 1896 dankte die Abteilung Dortmund der Reichsregierung „für entschiedenes Vorgehen bezüglich des englischen Freibeuterzuges nach Transvaal“ – die „Burensolidarität“ wird wenig später eine bedeutende Rolle spielen.
Bei der Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft im Jahre 1899 beantragte die Abteilung Dortmund die Einrichtung von Lehrstühlen für Völker- und Erdkunde – dem Antrag wurde stattgegeben, denn die Argumentation leuchtete ein: Die Lehrerausbildung müsse verbessert werden, um den „neuen Stoff“ zu vermitteln.
Kolonie Neu-Dortmund in Honduras
Für ein paar Jahre geriet Honduras in den speziellen Dortmunder Blick. Der vom Postdienst freigestellte Dortmunder Lehrer Krämer warb für die Gründung der Kolonie „Neu-Dortmund“ am Tocomacho an der Miskitoküste Honduras. Eine erste Gruppe Dortmunder wanderte vor 1895 aus. 1896 kehrte Krämer zurück und beschrieb Honduras in einer Reihe von Veranstaltungen als eine Art “Schlaraffenland“. Weitere Dortmunder wanderten aus und bemerkten eine gewisse kognitive Dissonanz zwischen Phantasie und Realität. Krämer wurde 1898 zunächst in einem groß angelegten Prozeß mit ca. 50 Zeugen und unter Beteiligung von Gutachtern vor dem Dortmunder Amtsgericht wegen „Verleitung zur Auswanderung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen“ verurteilt, allerdings im Jahre 1900 vor dem Landgericht Bochum wieder freigesprochen. 1907 taucht er im Reichstagswahlkampf als kolonialer Wahlredner auf Seiten der Nationalliberalen Partei wieder auf.
Völkerschauen in Dortmund
Dortmund entwickelte sich zur Großstadt und wurde interessant für gewerbliche Völkerschauen, die im Fredenbaum stattfanden. Im Jahre 1890 gastierten eine „Somali-Karawane“, ein Jahr später dann “Buffalo Bill’s Wild West”. 1898 folgten die „Krieger des Mahdi“, ein Jahr später die „Bischaris“ aus dem oberen Niltals. Im aufblühenden Unterhaltungsgewerbe traten in Varietes weitere Völkerschau-ähnliche Schaustellerinnen und Schausteller auf.
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