Dortmund im Globalisierungsprozess
Der „Einkaufsverein Dortmunder Kolonialwarenhändler“, abgekürzt EDEKA, wurde gegründet. Wenig später schloss sich EDEKA-Dortmund der reichsweiten Genossenschaft E.d.K. (Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler) an, aus dem dann der heute bekannte EDEKA entstand. Andere Dortmunder Lebensmittelhändler gründeten die Kolonialwaren – Einkaufsgenossenschaft “Krone”, die sich später dem neu gegründeten REWE anschloss. Schon vor Beginn des 1. Weltkriegs war die Dortmunder Lebensmittelversorgung globalisiert: Frische Äpfel, Orangen und Weintrauben aus Südafrika, Bananen von den Kanarischen Inseln oder aus Mittelamerika, Gefrorenes Fleisch aus Argentinien oder aus Südwestafrika, getrocknete Pflaumen und Speck aus Kalifornien, Reis aus Birma, Palmöl aus den deutschen Kolonien, Kaffee aus Java, Brasilien oder Deutsch-Ostafrika.
Alle großen Dortmunder Unternehmen waren bereits in den deutschen und anderen europäischen Kolonien aktiv. Im Jahre 1910 wurden allein über den Dortmunder Hafen 12.000 Tonnen Eisenbahnmaterial in die deutschen Kolonien verschifft. Ruhrkohle wurde exportiert nach China, Indien, Siam, Japan, Java. Dortmunder Brauereien lieferten das Bier bis nach Hawaii, womit wir im Übrigen die Behauptung eines bekannten deutschen Schlagers widerlegen können. Der Hörder Verein/ Phoenix beteiligte sich in China finanziell an Kohlebergwerken und der Schantung-Eisenbahngesellschaft. Globalisierung vor 100 Jahren bedeutete auch Importe aus aller Welt: Eisenerze für die Dortmunder Stahlproduktion aus Afrika und Lateinamerika, Asbest für die Wärmedämmung aus Südafrika, Futtermittel aus Asien für die industrielle Schweinemast, Kokosgarn für Treibriemen aus Asien, Palmöl für die Margarineproduktion aus Asien und Afrika.
Der strategische Rohstoff der Zeit – nicht nur aus Dortmunder Sicht: Eisenerz. Hinter „Panthersprung nach Agadir“ und Marokko-Krise verbargen sich die Interessen der Schwerindustrie des Ruhrgebiets an den Abbaugebieten für Eisenerze in Marokko. Einer der führenden Köpfe im Konflikt der kriegsbereiten Schwerindustrie mit der noch zögerlichen deutschen Regierung in der Marokko-Frage war Heinrich Beukenberg, Generaldirektor der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, zweitgrößter deutscher Stahlhersteller, und zugleich Vorsitzender der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (Langnamverein) und – natürlich – Vorstandsmitglied der Dortmunder Kolonialgesellschaft. Gemeinsam mit Hoesch (Vorstandsmitglied Kolonialgesellschaft) und anderen Industriellen des Ruhrgebiets (die, soweit namentlich bekannt, alle in der Kolonialbewegung aktiv waren) gründete er 1913 auch die Brasilianische Bergwerks- & Hütten-Gesellschaft, ein Explorationsunternehmen für den Eisenerzabbau in Brasilien.
Deutsche Kolonialgesellschaft und der Frauenbund
Die organisierte Kolonialbewegung in Dortmund setzte die Reihe der Vortragsveranstaltungen fort. Themen wie „Verlauf und Ergebnisse von Dernburgs Reise nach Deutsch-Ostafrika“ mit Bezirksamtmann a.D. Dr. Bongard oder „Ernste und heitere Erlebnisse aus meiner Seedienstzeit“ mit Marinepfarrer a.D. Wangemann waren allerdings zu diesem Zeitpunkt von wenig Erfolg gekrönt. Die Deutsche Kolonialgesellschaft versuchte nun mit gezielten Veranstaltungen die Notwendigkeit von Kolonien zu beweisen.
„Die Bedeutung unserer Kolonien für die heimische Volkswirtschaft“
ist ein typisches Thema, in dem es – anders als in den vorhergehenden 20 Jahren – nicht mehr nur um die Information über die neuen Kolonien geht, sondern in dem nun versucht wird, den unmittelbaren volkswirtschaftlichen Nutzen zu beweisen. Mit anderen Veranstaltungen versuchte man die Dortmunder Arbeiterschaft zu erreichen. „Die deutschen Arbeiter und die deutschen Kolonien“ oder „Die Bedeutung unserer Kolonien für unsere Industrie und Arbeiterschaft“ waren solche Veranstaltungen, die sich an Arbeiter richteten. Im Allgemeinen wohl vergeblich: „Der Vortrag war leider schwach besucht, doch verlief er zur größten Zufriedenheit der Zuhörerschaft.“
Im Jahre 1910 wurde die Abteilung Dortmund des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft gegründet (Vorsitzende „Frau Sanitätsrat Dr. Hausberg“) und damit der Versuch unternommen, die kolonialinteressierten bürgerlichen Frauen zu organisieren. Doch so richtig wollte auch das in Dortmund nicht gelingen, den Zulauf blieb eher zögerlich. Immerhin kamen nun neue und attraktivere „Aktionsformen“ in Dortmund auf z. B. veranstaltete der Frauenbund einen „Kolonial-Tee mit künstlerischen Darbietungen“.
Kolonialkrieger
Die zurückgekehrten Kolonialsoldaten trafen sich in Dortmund nun nicht mehr nur zu geselligen Runden im “Bierstall” (so hieß das Vereinslokal) und zu Sedanfeiern, sondern sie begannen mit kolonialpropagandistischen Veranstaltungen. Der Verein ehemaliger Kameraden der kaiserlichen Schutztruppen ergänzte im Reinoldushof z. B. eine Kaisergeburtstagsfeier mit dem vaterländischen Lustspiel „Kolonie und Heimat“.
Auch die Pfadfinderbewegung, die wesentlich von Offizieren mit Erfahrungen aus den deutschen Kolonialkriegen initiiert wurde, entwickelte sich in Dortmund. Eine Gruppe Kolonialpfadfinder existierte – vermutlich nur kurzzeitig – in Dortmund-Hörde. Der Vorsitzende der Abteilung Dortmund der Deutschen Kolonialgesellschaft, Generalmajor von Harbou, wirkte zugleich als Vertrauensmann der Jungdeutschlandbewegung. Darüber hinaus war auch eine Dortmunder „Vortrupp-Gruppe“ aktiv, die ebenfalls eine hohe koloniale Affinität hatte.
Die Mission
In den evangelischen Gemeinden gehörten Missionsfeste nun zum festen Jahresablauf. Die Treue zur Rheinischen Mission und damit zur Mission unter den Hereros wurde allerdings zunehmend fragil, weil andere Missionsgebiete der Rheinischen Mission „interessanter“ wurden oder aber andere Missionsgesellschaften verstärkt in Dortmund Fuß fassten. Über die traditionellen Missionsfeste hinaus entwickelten sich „individuellere“ Aktionen, so stifteten z.B.
- die Konfirmanden und Katechumenen der Kreissynode Dortmund für den Ankauf eines Missionsschiffes in der deutschen Kolonie Neu-Guinea
- die Kinder des Paulusbezirks und der CVJM „eine Trompete für Missionar Ziegler in Neuguinea“ (zugleich „Abschiedsgruß an die Missionarsbraut, eine Tochter unserer Stadt“)
- die Paulusgemeinde für eine Missionsglocke in Neuguinea
- die Johannesgemeinde eine Missionsglocke für die Missionsstation Sibolga auf Sumatra
- der Jungfrauen-Verband der Synode eine Glocke für eine Gemeinde auf Sumatra.
Neu ab 1914 auch die Dortmunder Ortsgruppe für ärztliche Mission, die unter der persönlichen Leitung des Superintendenten stand; seit 1842 standen Dortmunder Superintendenten aktiv in der Missionsbewegung. Ein Phänomen, dass sich bis heute fortgesetzt hat?
Dortmunds Anteil am Welthandel
Ab nun kein Jahresbericht der Handelskammer Dortmund mehr ohne Ausführungen zu den deutschen und anderen europäischen Kolonien – oder sollte man „modern“ übersetzen: Zu überseeischen Märkten? Denn andere Regionen der Welt sind für die Dortmunder Wirtschaft lukrativer und so werden dann solche Themen behandelt: „Indien den Indern“, “Marokko und die Rif-Kabylen“, „Panthersprung von Agadir“ oder „Kongoabkommen“. Die deutschen Kolonien waren – wenn der Eisenbahnbau außer acht gelassen wird – für Dortmunder Unternehmen als Investitionsgebiet irrelevant, dienen aber zunehmend der Flottenbaupropaganda, denn, so die Handelskammer Dortmund
„ohne Schutz blieben unsere bereits reichlich mit deutschem Blut getränkten Kolonien“.
Was dabei offen ausgesprochen wurde: Die Dortmunder Schwerindustrie gehörte zu den Gewinnern der Flotten- und Rüstungsindustrie.
Die Dortmunder Handelskammer behandelte aber darüber hinaus eine bunte Vielfalt kolonialer und/oder weltwirtschaftlicher Themen, z. B.
- eine an den Reichskanzler gerichtete Eingabe „für die Freiheit des Handels im Kongobecken und die Erhaltung unserer Rechte“
- der Beitritt zur deutschen Kongo-Liga
- die „Tarifierung von Radsätzen im Deutschen Ostafrika-Verkehr“
- eine „Aufforderung zum Eintritt in den Deportations-Verband betreffend einer Versuchs-Ansiedlung entlassener Strafgefangener in der Südsee“
- ein Votum für Berlin und gegen Hamburg als Sitz des zu errichtenden Kolonial-Gerichtshofes
- die brasilianischen Vorzugszölle für die USA, die die Dortmunder Eisenindustrie schädigen würden
- die Benennung des Dortmunder Kommerzienrats E. Schweckendieck als Mitglied der ständigen wirtschaftlichen Kommission der Kolonialverwaltung
- die Verwendung von Bleistiften aus deutsch-ostafrikanischem Zedernholz.
Völkerschauen
Das Unterhaltungsgewerbe blühte in Dortmund und damit auch kamen auch zahlreiche Artisten aus Afrika, Asien und Amerika nach Dortmund. Die wohl größte Aufmerksamkeit erregten Gustav Hagenbecks „größte Indienschau der Welt“ im Dortmunder Fredenbaum und das Gastspiel des Zirkus Sarrasani mit Sioux-Indianern auf dem Gelände Müster-/ Lortzingstraße. Außerdem im Fredenbaum: Ein „Kongonegerdorf“ mit „30 Negern aus dem Kongo, Männlein und Weiblein, Buben und Mädels“, darin geboren am 26.4.1912 Cäcilia Bruce – gewissermaßen die erste Schwarze Dortmunderin.
Die SPD
Von einer Protestkundgebung gegen den drohenden Krieg in und um Marokko einmal abgesehen, scheint auch die Mehrzahl der Dortmunder Sozialdemokratie den kolonialen Schwenk der Partei unter ihrem kolonialpolitischen Sprecher Gustav Noske mitzugehen. Die koloniale Radikalkritik früherer Jahre verstummte in Dortmund zunehmend und nur noch von Ferne konnten die antiimperialistischen und antikolonialen Stimmen vernommen werden, z.B. von Rosa Luxemburg oder von den zum Anarchismus bzw. Syndikalismus übergehenden Kreisen im Sozialistischen Bund oder in den lokalistischen Gewerkschaften.
Die Dortmunder Arbeiterzeitung veröffentlichte 1914 einen bemerkenswerten Artikel, der Zeugnis vom Zusammenhang des Konsums in Deutschland und der Ausbeutung in den Erzeugerländern abgibt. Kakao und Schokolade, das „feine, bekömmliche Produkt“, wie die Arbeiter-Zeitung mit Blick auf die Produktionsbedingungen ironisch formuliert, ist im Jahre 1914 kein Luxus-Produkt nur der Wohlhabenden in Dortmund. Der Artikel beschreibt die mit Mitteln des deutschen Kapitals florierende Produktion des Kakaos. Dem Genuß des „feinen bekömmlichen“ Produkts in Deutschland werden die bitteren unbekömmlichen Arbeitsverhältnisse gegenüber gestellt, gipfelnd in der metaphorischen Überschrift „Kakao aus Menschenknochen“. An einem exemplarischen Beispiel wird die Logik der
„weltumspannenden kapitalistischen Kolonialpolitik“
aufgezeigt. Auch die – aus eurozentrischer Sicht – Ränder der Welt werden der kapitalistischen Ausbeutung unterworfen und die Arbeiter auf den Plantagen werden zum neuen Welt-Proletariat. Der koloniale Blick beginnt sich zu ändern: Aus dem “Heiden” und „Wilden“ wird für die einen der „Unterentwickelte“ und für die anderen aus dem „N….sklaven“ der “schwarze Proletarier”.
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